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Straßburg

Eine Erzählung

Meine Familie ist in ihrer Zusammensetzung außergewöhnlich. Sie besteht aus eigenen und einer Reihe adoptierter Kinder, die sich aus unserer Aufgabe als Pflegefamilie ergaben. Diese Geschichte handelt von einer Halbschwester meiner Adoptivtochter.

Diese Halbschwester meiner Tochter, schreibt mich über Instagram an. Ich nenne sie meiner Erzählung Victoria. Auf Instagram tummeln sich ganz viele meiner Bekannten, Verwandten und Freunde, mit denen ich jedoch weder kommuniziere, noch Kontakt habe.

Daher war ich verwundert, als mich Victoria anschrieb und fragte, ob ich Hilfe brauche. Ich sei doch schon im vorgerückten Alter und da hätten doch viele Probleme ihren Alltag zu meistern. Genau genommen bin ich achtzig und noch rüstig. Dennoch hatte mich diese Anfrage nicht nur überrascht, sondern auch gefreut. Immerhin hatten wir seit rund 20 Jahren nichts mehr voneinander gehört.

Sie bot mir Hilfe an. Beim Einkaufen, Rezepte einlösen, oder andere Hilfestellungen, mit denen ich nicht alleine nicht klar käme. Eine Handynummer war beigefügt. Mir kam das Angebot wie ein Wunder vor. Wie kam Victoria zu solch einem Angebot?

Wir hatten so lange keinen Kontakt miteinander. Auch wenn sie schrieb, dass sie in Heidelberg arbeiten würde und sie mir auf ihrer Fahrt von und zur Arbeitsstelle problemlos Hilfe leisten könnte, war das für mich unvorstellbar.

„Wer hilft denn heute noch Menschen in Not, ohne jegliche Gegenleistung?“, dachte ich. Aber, das hatte mich so beeindruckt, dass ich mich mit Victoria zu einem Eiskaffee verabredet hatte. Aus dem Eiskaffee wurden dann drei angeregte Stunden, voller Informationen und dem Wunsch einen gemeinsamen Ausflug nach Straßburg zu machen. Wir hatten uns von Anfang an gut verstanden.

Die Zeit der Anfahrt nach Straßburg verging wie im Flug, so angeregt waren unsere Gespräche. Dann Tiefgarage und Spaziergang in der Altstadt, bei herrlichem Wetter. Es war August und wir waren beide sommerlich angezogen. Es war gut warm. So, wie es sich im Hochsommer gehört.

Daher war auf den Wasserkanälen Straßburgs mächtig was los, vor allem Ausflugsgäste im offenen Schiff, unendlich viele Brücken prägten das Bild. Dieser Flair war einfach herrlich. Es war, als wären wir in einem anderen Leben.

In der Fußgängerzone frühstückten wir mit Genuss und guten Gesprächen. Victoria aß ein Sesambrötchen mit Lachs, Milchkaffee und Orangensaft. Ich war etwas herzhafter unterwegs, mit einem Schinken Baguette, belegt mit Grünzeug, danach eine Schneckennudel, mit Kirschen und Zuckerguss. Natürlich durfte der Milchkaffee in den üblichen, großen Tassen nicht fehlen. Der französische Café au Lait. Während Victoria ihre Kopfbedeckung abgenommen hatte, behielt ich meine Batschkapp an. Meine Kopfhaut ist sehr empfindlich, sodass ich den Rat der Hautärztin beherzigte und stets eine Kopfbedeckung trug.

Das Straßburger Münster bot, trotz dem sonnigen Wetter, eine in Stein gehauene, trotzige, fast düstere, aber eindrucksvolle Kulisse.

Es war wunderschön durch die Gassen zu streifen, welche sehr gepflegte Fachwerkhäuser säumten. Idyllisch das Grün der Bäume, die Sträucher und Kletterpflanzen an den Häusern. Märchenhaft. Man fühlte sich fast wie in einem anderen Jahrhundert zurück versetzt. Dank der Fußgängerzonen.

In einen der Fußgängersträßchen aßen wir zu Mittag. Es bestand aus Flammkuchen, einer elsässischen Spezialität. Ein leichtes überaus schmackhaftes Essen, wozu bei mir ein Glas Rotwein und bei meiner Begleitung ein Glas Weißwein dazu beitrug, dass es besser rutschte.

Als ich von der Toilette zurück kam, vermisste ich plötzlich mein Handy. Es war verschwunden. Ich war mir absolut sicher, daß es vor meinem Gang zur Toilette noch auf dem Tisch gelegen hatte. Victoria war sich nicht sicher. Sie konnte sich nicht erinnern, es gesehen zu haben.

Oh je, wenn das jetzt weg war! Womöglich gestohlen. Vom Tisch weg. Das wäre ein teurer Ausflug. Victoria hatte schnell den richtigen Einfall und wählte meine Nummer, vielleicht klingelte es in unserer Nähe und alles hätte sich erledigt.

Es meldete sich eine weibliche Stimme auf Französisch. „Ah ha.“, dachten wir, da hatten wir die Täterin. Aber wie geht es jetzt weiter? Keiner von uns konnte französisch. Nach Sekunden der Sprachlosigkeit, hörten wir die unbekannte Stimme ins deutsche wechseln. Mit französischem Einschlag: „Sind sie diejenige Person, die im Käseladen eingekauft hat? Dann haben sie auch ihr Handy hier an der Theke liegen lassen!“

Was für eine Erleichterung, das Handy war nicht gestohlen! Und das geschah so:

Victoria suchte schon die ganze Zeit ein Spezialitäten Geschäft, in dem es Genüsse der Region gab. Wir hatten auch ein tolles Geschäft gefunden. Angefüllt mit vielerlei Käse, Wurst und Pasteten. Der Rest fand weniger unsere Aufmerksamkeit. Die Verkäuferin war sehr sympathisch und wir kamen ins Gespräch. Wir deckten uns mit Windschweinsalami, verschiedenen Käse Leckereien und Pasteten ein. Beim Bezahlen, musste ich mein Handy auf die Theke gelegt und es einfach vergessen haben.

So etwas konnte in meinem Alter schon einmal passieren, wenn ich abgelenkt war. Bei Hitze sowieso, denn die Temperatur hatte mittlerweile 30 Grad überschritten. Aber es war ja noch mal alles gut gegangen.

Erschöpft von der Aufregung, der Hitze, standen wir auf einem großen Platz hinter dem Münster und schauten sehnsüchtig einigen Springbrunnen zu. Sie schossen, in zwei Reihen angeordnet, ihre kühlenden Wasserfontänen, direkt aus dem gepflasterten Boden in die Höhe. Eine Menge an Menschen erfreute sich an dem Schauspiel. Aber keiner lief hindurch.

“Da geht’s jetzt durch, als wenn es keine Fontänen gäbe.“, sagte Victoria plötzlich. „Auf Freddy, sei kein Frosch!“.

Zuerst dachte ich, die spinnt ja! Wir sind doch keine Kinder. Aber sie ließ nicht locker. Da vergaß ich mein Alter, die Leute um uns herum und so spazierten wir zusammen durch’s kühle Nass. Ganz langsam, als würden wir flanieren.

Die Zuschauer hatten sich nicht mehr ein gekriegt. Wir boten ja auch etwas. Meine kurze, bräunliche Hose, mein schönes, blaues Hemd, der Rucksack, die Schuhe und die Strümpfe, alles war in Sekunden klitschnass. Durchweicht, als wäre ich in eine Badewanne gestiegen. Ich sah aus, wie ein gerupftes Huhn. Victoria genauso.

Dennoch lachten wir wie verrückt, so etwas musste einem erst einmal einfallen. Dank der Sonne waren wir innerhalb kurzer Zeit wieder trocken gelegt. Es war ein toller Tag an den ich noch heute gerne zurück denke. Dank Victoria.

Aber es gab noch eine Überraschung, als mich Victoria am frühen Abend daheim absetzte. Mein spontaner Ausflug nach Frankreich war nicht unbemerkt geblieben. Ausgerechnet in der Zeit, als ich mein Handy im Käseladen vergessen hatte, rief mich meine Schwiegertochter an und war völlig aus dem Häuschen unerwartet eine Französin am Telefon zu haben.

Daher wusste nicht nur meine ganze Familie, wo ich gewesen war, sondern ich hatte auch aufzuklären, wer denn diese fremde, französische Frau an meinem Handy gewesen war.

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Erfolgreiches Leben

Kommentar der Leserin Nicole Stritter zum Buch: „Tinas Tagebuch“.

„Ich fand Tina`s Tagebuch sehr interessant. Vor allem wurde aufgezeigt was die Jugendhilfe, die so heute beim Jugendamt nicht mehr zu finden ist, alles bewirken kann.

Als gescheiterte Existenz vorab verurteilt, zeigt uns Tina, wenn man Hilfe annimmt, auch wenn es länger dauert, dass Leben doch erfolgreich sein kann.

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Gutes Ende

Tinas Tagebuch

Gutes Ende!

Damit endete ein Kommentar einer ehemaligen Kollegin des Allgemeinen Sozialen Dienst, mit der ich sehr gut zusammenarbeitete während der Zeit in der das Buch spielt.

Sie schreibt in einer E-Mail an mich, „von meiner Freundin E. habe ich zu Weihnachten ein sehr schönes Buch bekommen.

Ich bin dabei tief in die Arbeit der Schutzhilfe eingestiegen. Habe ihr enormes Durchhaltevermögen, die Auseinandersetzungen mit Tina und die Kraft, die sie aufgebracht haben, bewundert. Das Ganze wurde ja auch belohnt. Tina hat die Lehre erfolgreich abgeschlossen.

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Lora und die Zerstörung von Pforzheim.

Meine Mutter und ich, im Alter von fünf Jahren.

Im Keller hörten wir die Bomber nicht. Das Heulen der Sirenen, die uns vor dem Angriff warnten und in die Keller trieben, war nur noch schwach zu vernehmen. Nur das Beben der Einschläge ließ alles erzittern. Vor allem mich. Aber alle hatten Angst, als die Einschläge näher kamen. Die bedrückte Stille der Menschen, zeigte dies überdeutlich.

Ich war damals fünf Jahre alt und wohnte in Pforzheim. Ausgerechnet in der Nähe des Hauptbahnhofes. Schienennetze griffen die Alliierten am häufigsten an. Um die Infrastruktur zu zerstören. Heute weiß ich, das der Angriff damals, die ganze Stadt betraf.

„Euer Ziel ist Pforzheim. Trefft es gründlich und viel Glück“, dies wurde den Piloten damals mitgegeben, bevor sie mit ohrenbetäubenden Lärm die schwere, tödliche Last in Luft hoben. Schwerfällig wie dicke Hummeln, mussten sie ausgesehen haben. 362 Lancaster Bomber der Royal Air Force flogen auf Pforzheim zu. Davon wusste ich damals nichts. Ich saß in dem dunklen Keller. Hörte das ängstliche Atmen, das Stöhnen, das jeden Treffer begleitete, der in unserer Nähe einschlug. Dieses Mal sei es aber schlimm, flüsterten die Menschen bedrückt.

„Lora! Lora! Es kommt was.“ Das hatte der Papagei meiner Oma, zu der wir zu Besuch waren, gerufen. Den ganzen Tag lang. Wie ein Orakel auf das, was kommen sollte. Das hatte uns genervt. Hatte dieser Vogel etwas geahnt?

Ich war immer der Erste, der im Keller war, hieß es. Ob aus Angst, oder weil ich es inzwischen gewohnt war, bleibt unklar. Denn ich habe keine Erinnerung mehr daran. Beides ist möglich. Die Sirenen trieben uns nicht der erste Mal, in die Luftschutzräume. Jedenfalls schnappte ich mir immer mein Kopfkissen und weg war ich. Ob ich es zum Schlafen brauchte, oder es mir vors Gesicht und die Ohren drückte, weiß ich nicht mehr. Da wir bei diesem Angriff in einem von Pforzheims Vororten waren, hatte ich es an dem schicksalsschweren Tag nicht mit dabei. Wir waren zu Besuch bei Oma Walz.

Oma hätte gerne Lora mitgenommen, aber Tiere durften nicht mit in den Luftschutzkeller. Sie bangte um ihren Hausgenossen, das sah man an ihren flinken Augen, die immer wieder zur Kellertreppe huschten. Der Papagei war ihr ein und alles. Fast wie ein Kind. So dürfte sie es auch empfunden haben, als sie ihn alleine und schutzlos in der Wohnung lassen musste. Sie hatte ihn mit einem Tuch abgedeckt. Aber was half das gegen eine Bombe?

Der Angriff dauerte 20 Minuten. Mir kamen sie vor wie Stunden. Das Haus, in dem wir zu Gast waren, ja fast der gesamte Vorort, war verschont geblieben. Aufatmen für uns. Aber Pforzheim lag in Schutt und Asche. Überall brannte es. Es musste so ausgesehen haben, wie in dem Epos, in dem der verrückte Kaiser Nero Rom in Brand stecken ließ, um eine Hymne zu komponieren. Apokalyptisch.

In diesen 20 Minuten, hatte die Royal Air Force die Stadt völlig zerstört. 18.000 Menschen hatten ihr Leben verloren. Es war kein Stein mehr auf dem anderen. Es waren, im Verhältnis gesehen, sogar eine größere Zerstörung und mehr Opfer zu beklagen, als 10 Tage später in Dresden. 

Warum Pforzheim, fragte ich mich lange Jahre. Es gab doch keine Rüstungsindustrie in Pforzheim. Doch, die gab es. Aber nicht in großen Fabriken. Pforzheim war, vor dem Krieg, eine Schmuck- und Uhren-Stadt gewesen. Die Goldstadt nannte man sie deshalb auch. Mit vielen kleinen Handwerksbetrieben und viel Heimarbeit. In Zeiten des Krieges wurden hier allerdings mechanische Präzisionserzeugnisse, die in die V1 und V2 Raketen verbaut wurden hergestellt. Also die Raketen, die London bombardieren und ausradieren sollten. Diese kleine Handwerksbetriebe, meist im Wohnzimmer, oder einem Anbau untergebracht und die Struktur der Heimarbeit, sollten wohl zerstört werden. Vielleicht sollten auch die Menschen bestraft werden. Wer weiß.

Wären wir zu Hause und in unserem Keller gewesen, wären wir höchstwahrscheinlich auch unter den Todesopfern gewesen. Denn unser Haus gab es nicht mehr. Nicht nur die ganze Straße, sondern die komplette Innenstadt lag in Schutt und Asche. Ein einziges Trümmerfeld. Wir hatten also Glück gehabt am Leben zu sein. Aber außer dem, hatten wir jetzt nichts mehr. Gar nichts. Wir waren ausgebombt.

Allen Menschen, die in unserem Keller mit ausgeharrt hatten, war die Erleichterung anzusehen, dass ihr Viertel nicht getroffen worden war. Wir wussten ja noch nicht, wie es bei uns zu Hause aussah und so freuten wir uns mit ihnen.

Auch Oma war glücklich und hatte es eilig in die Wohnung zu kommen, um nach ihrer geliebten Lora zu schauen. Der Papagei war tot. Der Luftdruck der vielen Bomben war so stark gewesen, dass sie davon erstickt worden war. 

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Kommentar von Herrn Hartmut Loos

vom Gymnasium am Kaiserdom in Speyer vom11.Juli 2021

Tinas Tagebuch erzählt in spannender und fesselnder Darstellung die erfolgreiche Geschichte einer 15 bis 19 Jährigen , die aus schwierigen Verhältnissen stammend mit Hilfe vieler Menschen den Weg durch etliche Tiefen mit immer wieder negativen Erlebnissen zum selbstständigen Erwachsenen Leben gemeistert hat. Ergreifend und Mut machend zugleich. Eine hilfreiche Lektüre für alle, die mit schwierigen Jugendlichen zu tun haben und vielleicht kurz davor stehen aufzugeben.

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Ein teurer Achsenbruch

Eine Kurzgeschichte aus meiner Zeit bei der Bundeswehr.

Ich hatte es bis zum Stabsunteroffizier gebracht. War für zehn Soldaten unserer Gruppe zuständig. Wenn der Zugführer ausfiel, ein Feldwebel, war ich stellvertretender Zugführer. Dann unterstand der ganze Zug meinem Kommando. Immerhin 40 Mann. Daher war ich, noch jung an Jahren, ein ganz wichtiger Mann.

Immerhin sorgten wir Soldaten, der noch recht jungen Bundesrepublik Deutschland, für deren Sicherheit und für alle, die dort lebten. Meine Aufträge, bekam ich vom Zugführer. Dem Spieß, oder Kompaniefeldwebel. Er ist der höchste Unteroffizier der Kompanie. 120 Mann. Der Spieß, ist für die Organisation des Innendienstes zuständig. Nichts geht ohne ihn. Daher wird er auch, oft liebevoll, die „Mutter der Kompanie“ genannt. Genau wie bei Muttern, legst du dich lieber nicht mit ihm an, wenn du gut versorgt sein willst.

Früher hatte der „erste Unteroffizier“ einer Kompanie tatsächlich einen Spieß, eine Seitenwaffe und ging damit hinter der geschlossenen Formation auf das Gefechtsfeld. Dort trieb er, aus der Formation brechende Soldaten, mit seinem Spieß wieder nach vorne. Daher stammt der Name. Noch heute marschiert der Spieß, aus Tradition, alleine hinter der Kompanie. Zu erkennen an einer gelben Kordel, die er rechts unter seiner Dienstgradschlaufe hängen hat.

Also, der Spieß schickte mich los, um Ersatzteile für unsere Flugabwehr-Nike-Raketen zu holen. Aus dem Zentrallager. Zwei Gefreite, aus meiner Gruppe, hatte ich dabei. Einer saß am Steuer des Magirus-Deutz Jupiter. Ein riesiges, massiges Ungetüm.

Das Wetter war gut, es war Sommer, die Seitenfenster des rollenden „Monsters“ waren weit offen. Die Stimmung war war hervorragend. So ein Ausflug tat uns allen gut. Nur weg von dem alltäglichen Trott. Das hob sofort die Stimmung.

Im Prinzip war jeder Tag gleich. Wir hatten den Auftrag, die Kaserne, die Raketen-Abschuss-Anlage und den Feuerleitbereich zu schützen. Mitten im Sauerland. Im Ernstfall konnten die Raketen mit konservativen Sprengköpfen, aber auch mit Atomsprengsätzen bestückt werden konnten. Keine Spielerei also.

Zur Zeit gab es wieder irgendwelche Spannungen zwischen Russland und Amerika. Unsere Raketen waren daher immer einsatzbereit. Aber uns beschäftigte mehr die Urlaubssperre, die uns von unseren Familien trennte. Die Frage, ob drei Wochen reichen würden, oder eine Verlängerung drohte, darum drehte sich unser Gespräch. Wenn man das bei dem tiefen, wummernden Motorenlärm und dem lauten Fahrtwind überhaupt so nennen konnte, denn wir schrieen uns eigentlich nur gegenseitig an.

„Stuffz, schau dir mal den Idiot mit dem BMW an!“, schrie mein Fahrer plötzlich. Stuffz war eine Abkürzung für Stabsunteroffizier. Vor uns überholte gerade einer dieser schnittigen Flitzer einen anderes Auto. „Der hätte doch hier nie überholen dürfen. So kurz vor der Kurve. Der Depp konnte doch gar nicht wissen, was auf ihn zukommen kann.“

„Bei dem Fahrstil würde es mich nicht wundern, wenn dem Kerl gleich die ganze Kiste umkippt.“, rief ich zurück. Ich hatte meinen Mund noch nicht geschlossen, die scharfe Kurve lag gerade hinter uns, da sah ich nichts mehr von dem „Irren“.

„Wo ist der denn jetzt hin? Der kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“, wunderte ich mich lautstark. Auf einer Strecke von mehreren hundert Metern, war von dem tollen BMW nichts mehr zu sehen.

Links von uns waren nur Wiesen. Rechts Wald mit verschiedenen Schonungen. Da rief mein Fahrer: „Hey Stuffz, hast du das gesehen? Da steht der BMW. Ganz dahinten in der Schonung?“

„Dann sind wir doch vorbeigefahren?“, stellte ich verdutzt fest. Ich drehte mich um, schaute aus dem Fenster nach hinten, sah aber nichts. Die Bäume waren zu hoch, standen zu dicht. „Wenn dem was passiert ist, müssen wir erste Hilfe leisten.“, rief ich meinen Leuten zu. Zum Fahrer gewandt sagte ich: „Halt an! Fahr langsam zurück. Ich schaue, ob was von hinten kommt.“

Langsam fuhren wir zurück. Tatsächlich! Da mitten in der Schonung stand das Auto. Alle kleinen Bäumchen waren von dem Aufprall wegrasiert worden. Diese Schonung hatte ihn gerettet, denn wenn er von einem dieser großen, dicken Stämme gestoppt worden wäre, dann wäre nicht mehr viel übrig geblieben. Von dem Auto und dem Fahrer.

„Los Männer raus!“, rief ich aufgebracht. „Nichts wie hin, wer weiß was alles passiert ist.“ Und ab ging es durch die Schonung.

Der Fahrer, ein junger Mann im Alter von meinen Gefreiten, saß hinter dem Steuer. Er rührte sich nicht. Wir dachten schon einen Toten vorzufinden. Zumindest aber einen Schwerverletzten. Als wir die Autotüre aufrissen, sprang der Unfallfahrer plötzlich aus dem Auto, als wäre nichts geschehen. Es sah etwas komisch aus. So, als ob man den Deckel einer Schachtel öffnet und ein Spring-auf-Männchen kommt dir unerwartet entgegen gesprungen.

Nach dem ersten Schreck, umrundeten wir den BMW einige Male. Es war nicht zu fassen. Dem Anschein nach war nichts defekt. Auch der Fahrer, war noch einmal mit dem Schreck davon gekommen. Er schien so tief zu sitzen, dass er ganz kleinlaut geworden war. Was sollte er denn jetzt tun? Wie bekam er sein schönes Auto aus dem Acker? Das war sicher ein Geschenk vom reichen Papi gewesen.

Da ich es für eine gute Übung hielt, bot ich ihm an, das Auto mit der Seilwinde unseres LKW aus der Schonung herauszuziehen. Der Stein, den wir ihm damit vom Herzen nahmen, musste riesig gewesen sein. Verständlich. Er würde es schwer haben, seinem Vater die notwendigen Reparaturen zu erklären. Daher half ich gerne.

Wir zogen das Auto aus der Schonung. Mit den Pferdestärken unseres LKW, dem Stahlseil, der Winde, war es kein Problem. Das Schwierigste war, den richtigen Ankerpunkt am Wagen zu finden, damit nicht wir das schicke Gefährt noch mehr beschädigten. Der junge Mann bedankte sich überschwänglich, gab jedem meiner beiden Soldaten zwanzig DM.

Mir wollte er sogar einen Fünfziger geben. Einen Chef Bonus sozusagen. Aber ich lehnte es ab. Schon damals dachte ich, dass sich so etwas einfach nicht gehörte. Das Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit stand dabei auf dem Spiel. Schließlich trugen wir Uniformen.

Als wir sahen, dass der BMW noch fahrtauglich war, haben wir uns wieder an unseren Auftrag erinnert. Haben unsere Fahrt fortgesetzt, um das Material zu holen. Damit war für uns die Sache erledigt.

“Stabsunteroffizier Siebler!“, schrie der Spieß. Geschrien wurde bei der Bundeswehr schon immer und auch oft. Immer von Oben nach Unten, versteht sich. Das war ich also gewohnt. Von beiden Richtungen. Aber so wütend, hatte ich die „Mutter der Kompanie“ selten erlebt. Mir wurde mulmig, ohne dass ich wusste warum.

„Sind sie denn völlig übergeschnappt, Siebler?“, blaffte er weiter. Mir war immer noch nicht klar, worum es überhaupt ging. Sein roter Kopf und die dicken Adern, an seinem korrekt geschlossenen Hemdkragen, deuteten aber nichts Gutes an. „Haben sie zehntausend Mark zuviel, Mann? Wie können sie mit einem LKW der Bundeswehr eine Geländefahrt machen, ohne ausdrücklichen Befehl?“

Nun wurde mir erst richtig heiß. Natürlich hatte ich keine zehntausend Mark. Woher sollte ich die denn haben. Die Bundeswehr zahlte schon damals keine Gage. Zudem war ich frisch verheiratet und wir hatten unsere erste Wohnung gerade bezogen. Da machte man keine großen Sprünge. Und, was hatte es mit dieser Geländefahrt auf sich? Wie kam der nur da drauf? Ich hatte keine Geländefahrt gemacht. Verständnislos starrte ich meinen Chef an.

„Diese Rettungsaktion, sie Hornochse!“, klärte er mich auf. Nicht weniger laut.

Die Rettungsaktion war inzwischen schon vier Wochen her. Was sollte das Ganze denn? Ich begriff immer noch nichts.

„Der LKW ist hin, Siebler! Total am Arsch. Ein Haarriss an der Hinterachse. Die Reperatur kostet unseren Verein ungefähr zehntausend Mark.“, ließ er die Bombe platzen. „Und weil sie ohne Befehl den Retter spielen mussten, zahlen Sie das Siebler. Verstanden? Abtreten!“

Mit schlotternden Knien machte ich Männchen und trat ab. Da hatte ich mich ja ganz schön in die Scheiße geritten. Der Spieß scherzte nicht, da war ich mir sicher. Ohne einen Befehl von einem dienstlichen Auftrag abzuweichen, war kein Kavaliersdelikt. Dabei Eigentum der Bundeswehr zu beschädigen war heikel. Ich hatte also richtig Angst davor, diese riesige Summe zahlen zu müssen. Wer mich verpfiffen hatte, war unerheblich. Denn, woher wusste der Spieß von der Rettungsaktion?

Für mich war nicht nur der Tag gelaufen, sondern auch die Nächte danach. Bald wusste ich schon nicht mehr ein und aus. Wie sollte ich das abwenden. Woher sollte ich so viel Geld nehmen? Ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Außer meiner Frau. Aber die erfasste noch mehr Panik, als ich es ihr endlich beichtete. Nun waren wir beide am Boden zerstört.

„Du musst mit meinem Vater sprechen. Der hat doch so viel Kontakte, auch in die Bundeswehr. Vielleicht kann er uns helfen.“, meinte meine Frau irgendwann. Das war ein kleiner Hoffnungsschimmer am düsteren Himmel.

Es war ein rettender Gedanke. Der Einzige der uns blieb. Die Schwiegereltern um etwas bitten zu müssen, war mir allerdings so unangenehm, wie eine Wurzelbehandlung an einem wunden Zahn. Mein Schwiegervater war nämlich eine beeindruckende Persönlichkeit. Ich hatte mächtig Respekt vor ihm. Aber auch immer das Gefühl, dass ich kein gern gesehener Schwiegersohn war. Nicht standesgemäß, sozusagen. Wir lebten in unterschiedlichen Galaxien. Aber er war der Bürgermeister von Ramstein. Dort lag die wichtigste Air Base der Amerikaner. Generäle, amerikanische, wie deutsche, gingen bei meinem Schwiegervater ein und aus. Wenn uns jemand aus der Patsche helfen konnte, dann er. Da hatte meine Frau recht.

Also reisten wir nach Ramstein. Damals eine Odyssee. Vier Stunden dauerte die Fahrt. Nach drei Mal umsteigen, kamen wir völlig erschöpft an. Der Schwiegervater wollte uns am Bahnhof abholen. War aber nicht da.

Geld für ein Taxi hatten wir nicht. Die Zugfahrt hatte schon ein Loch in unsere Haushaltskasse gerissen. Bei dem Bus wussten wir nicht, welchen wir nehmen mussten. Nicht einmal in welche Richtung. Da half nur sich durchfragen. Es war eine ganz schöne Quälerei, bis wir es endlich zu dem Haus meiner Schweiegereltern geschafft hatten. Es war eine schöne Villa am Hang und natürlich am Rande der Stadt. Direkt hinter dem Grundstück lag der Friedhof. Gruselig. Aber das sahen wir erst später.

Die Schwiegermutter machte uns auf. „Ihr! Alleine. Wo ist denn Papa?“, fragte sie ganz erstaunt.

„Das wissen wir nicht. Er war nicht am Bahnhof.“, sagte meine Frau. „Wir sind ganz schön geschafft.“

„Da hat Papa wieder mal etwas durcheinander gebracht. Kommt erst mal rein. Ich mache euch Kaffee.“

Der Kaffee tat gut. Auch wenn er für meinen Geschmack etwas zu dünn war. Der leckere Nusszopf, der uns serviert wurde, entschädigte mich dafür. Wir hatten schon lange nichts mehr gegessen. Meine Schwiegermutter rief im Rathaus an. Klar! Er hatte es vergessen. Warum wir nicht angerufen hätten? Gut, das hatten wir vergessen. Besser, überhaupt nicht daran gedacht. Wir hatten so fest mit seinem Dasein gerechnet, dass wir einfach durch den Wind waren. Wahrscheinlich auch wegen des Problems, wegen dem wir hier waren. Unsere Köpfe waren voller Ängste und Sorgen. Nicht gleich mit meinem Schwiegervater darüber reden zu können, hatte uns einfach fertig gemacht. Schließlich ging es um nichts weniger, als unsere Existenz.

Wenn wir gedacht hatten, gleich mit „Herrn Bürgermeister“ sprechen zu können, wenn er nach Hause käme, dann hatten wir uns geschnitten. Einfach damit heraus platzen wollte ich auch nicht, denn ich brauchte seine volle Aufmerksamkeit. Ich wollte alleine mit ihm über den Vorfall sprechen, der unser junges Glück belastete. Ja, gefährdete. Also hielten wir uns zurück.

Trotz unserer Sorgen gingen die zwei Tage schnell vorbei. Obwohl ich mich nicht wohl fühlte im Hause des Bürgermeisters. Das Essen war sehr schlicht. Selbst für unsere Verhältnisse einfach. Vor allem hatte es wenig Würze. Aber das ist ja bekanntlich Geschmacksache.

Was mich vor allem befremdete, war die sakrale Stimmung, welche dort herrschte. Wie ein leichter Sommerwind durchzog sie alle Räume. Vor und nach dem Essen wurde gebetet. Das laute Vorbeten, war die Aufgabe meiner Schwiegermutter. Sie ratterte das Gebet, wie mit einem Maschinengewehr geschossen herunter, so dass nichts zu verstehen war. Danach fuhr sie übergangslos mit einer Frage fort. So, als sei das zuvor gar nicht gewesen. Das zeigte den Umgang mit dem kirchlichen Glauben. Den Stellenwert. Sie trugen ihn wie eine Monstranz vor sich her, aber sie verhielten sich nicht danach. Der Umgang mit ihrer Tochter, meiner Frau, bestätigte das. So verhielten sich gute Eltern nicht. Schon gar nicht als gute Christen.

Wie sich meine Frau dabei fühlen musste, konnte ich gut erahnen. Sie hatte wirklich keine schönen Erlebnisse mit ihren Eltern. All das schluckten wir jedoch hinunter, denn wir waren auf die Hilfe meines Schwiegervaters angewiesen. Wenn er uns nicht helfen konnte, oder noch schlimmer nicht wollte, dann waren wir am Ende.

Am Samstag nahm sich mein Schwiegervater endlich Zeit, um sich mein Problem anzuhören. Ich fühlte mich, als hätte ich eine Audienz beim Papst. Wie bereits geschrieben, er war eine beeindruckende und auch einschüchternde Persönlichkeit. Was mich beengte, half mir aber vielleicht auch. Denn der Zeitpunkt des Gespräches passte ganz gut. Abends gab es eine Veranstaltung zur Pflege der deutsch-amerikanischen Freundschaft. Bei diesen Anäßen kamen natürlich auch immer hochrangige Offiziere der Bundeswehr. An diesem Abend wollte mein Schwiegervater mit einem guten Bekannten, einem deutschen General, über meinen Fall sprechen. Mit fiel ein ganzes Felsengebirge von der Seele. Auch wenn ich nicht sicher sein konnte, dass dabei etwas herauskam, so war es zumindest ein Licht im Tunnel unseres Elends. Ob es wirklich das Tageslicht war, oder ein entgegenkommender Zug, würde ich erst am nächsten Tag wissen.

Die Erlösung unser Qualen kam am nächsten Tag. Der General und mein Schwiegervater waren überein gekommen, dass ein Militärlastwagen der Bundeswehr ein paar Meter im Gelände aushalten musste. Der Achsbruch konnte nicht meine Schuld gewesen sein. Das spontane Helfen, durch Soldaten der Bundeswehr, zeigte Bürgernähe, meinte der General. Das trug eher zu einem positiven Ansehen der Truppe in der Öffentlichkeit bei.

„Ich soll dir ausrichten, dass du dir keine Sorgen mehr machen musst. Der General regelt das.“, sagte meine Schwiegervater die erlösenden Worte. Wir wären beinahe in Tränen ausgebrochen, so erleichtert waren wir.

Wenige Tage danach, wurde ich zum Hauptfeldwebel, dem Spieß gerufen. Ganz wohl war mir bei der Sache immer noch nicht, denn ich wusste ja nicht, was „regeln“ aus Sicht der Generals bedeuten würde.

„Mein lieber Stuffz Siebler.“, sagte der Spieß zu mir. Dieses Mal in normale Lautstärke. Dennoch wirkte er auf mich wie ein Wolf der Kreide gefressen hatte, um sich an eines der Geißlein anzuschleichen und es zu fressen.

„Ich weiß nicht, wie sie das gedreht haben, Mann.“, knurrte er mich an. „Das ist mir ehrlich gesagt völlig schleierhaft. Ist auch egal. Die Ansprüche der Bundeswehr an sie sind vom Tisch. Sie werden nicht belangt wegen ihres Einsatzes in der Schonung. Noch nicht einmal eine Disziplinarstrafe erwartet sie, da scheinen sie ja ganz gute Verbindungen zu haben.“

Einen Freund hatte ich mir mit dieser Aktion nicht gemacht. Denn die Befehlskette zu umgehen war für meinen Spieß schlimmer, als der Achsenbruch. Das war mir klar. Aber so etwas von egal. Mir fielen ganze Felsbrocken vom Herzen. Das musste auch der Spieß gesehen haben.

„Sie können abtreten!“, schrie er plötzlich los. „Ich will sie die nächsten Tage gar nicht erst sehen.“